Texte
Endlose Weiten – Helga Maria Albrechts Unbounded Landscapes
von Dr. Belinda Grace Gardner, Kunstwissenschaftlerin, Oktober 2025
Violetter Flieder, heller Jasmin, bauschige Päonien und Rosenblüten in Magenta- und Himbeertönen verbinden sich zu einem Farbrausch. Andernorts spiegelt sich Licht im schimmernden Blau eines stillen, mit weißen Kelchen durchsetzen Seerosenteichs. Helga Maria Albrechts expressive, oft fast aquarellhaft-transparente Kompositionen lassen an einen üppig blühenden Garten im Frühsommer, an das Leuchten von gelben Rapsfeldern am Wegesrand oder einen Herbstwald denken, durch dessen goldbelaubte Bäume tiefstehende Sonne fällt. Sie evozieren erstes Grün im Frühling oder freilegte Äste und erstarrte Gewässer im Winter. Die Bilder der Künstlerin sind von atmosphärischen Schwingungen und Lichtreflexen durchwirkt, die nicht nur visuelle Assoziationen hervorrufen, sondern multisensorisch auf die Phantasie der Betrachter:innen einwirken. Dabei lösen sie Erinnerungen an etwas Gesehenes, mental Gespeichertes aus: an eine Landschaft im Vorbeifahren aus dem Zugfenster vielleicht, einen Gang durch die Natur oder an den bunten Wildwuchs einer Blumenwiese.
Tatsächlich sind die oft aufgrund der flüssigen Farbkonsistenz auf dem Boden und über ausgedehnteZeitprozesse in vielen Schichten entstehenden Bildräume, die Helga Maria Albrecht kraft ihrer Malerei kreiert, Orte der Befreiung aus den Rahmungen und Engführungen des Gegenständlichen. In ihren Terrains der ebenso energievoll wie präzise gesetzten organischen Farb-Schwünge und -Felder ist sie den Wahrnehmungswegen innerer und äußerer Wirklichkeiten auf der Spur. Malerei ist für sie ein Mittel, gestalterische und inhaltliche Grenzen zu erweitern und zu überwinden. Seit 2023 führen ihre vielgleisigen ästhetischen Erkundungen in die Weite der Unbounded Landscapes: grenzenlose Landschaften, in denen die Orte und Zeiten verfließen. Mit ihrer malerischen Entgrenzung und Transformation von Landschaft und Natur sucht die Künstlerin, diese „auf eine neue Weise zugänglich“[1] zu machen. Dabei schöpft sie gleichermaßen aus greifbaren und imaginierten Realitäten. Bei aller Abstraktion wurzeln ihre Werke in eigenen konkreten Natur- und Landschaftserlebnissen. Ihre von einer innewohnenden Dynamik erfüllten Kompositionen sind von diesen unmittelbaren Erfahrungen durchdrungen, ohne davon vereinnahmt zu werden.
Serien dieser Werkgruppe tragen Titel wie Meadows and Flowers, Waterscapes oder Winter Sea: allesamt Verweise auf Naturräume, die dennoch offenbleiben und lediglich Hinweise auf die Inspirationsquellen geben, aus denen die Künstlerin bei deren Realisierung schöpfte. Im Malprozess geht es ihr nicht darum, etwas Bestimmtes abzubilden, sondern „unabhängig von Natur oder Landschaft“[2] einen Dialog der Farben zu erzeugen, diese miteinander in Zusammenklang zu bringen. Zugleich ist es für sie entscheidend, auch Widersprüche stehen zu lassen, wie es der Vielfalt der Natur entspricht, in der Harmonien und Differenzen simultan existieren. Auf diese Weise ist jedes Bild wie ein Modellversuch eines Miteinanders, das Divergenzen und Reibungen zulässt. In diesem organischen System, befindet die Künstlerin, haben alle Elemente ihre Daseinsberechtigung und interagieren miteinander. Dabei stellt sie sich die grundsätzliche Frage, auf welche Weise dieses Zusammenspiel in Balance gehalten werden kann: „Geht das überhaupt – und, wenn ja, wie geht das?“[3]
Ursprünglich von der grafischen Gestaltung herkommend, verlegte sich Helga Maria Albrecht Anfang der 1990er-Jahre ganz auf die freie Kunst. Seitdem präsentierte sie ihre Werke in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen von Hamburg bis Naju, Südkorea. In den vergangenen Dekaden löste sich ihre Malerei zunehmend aus der Figürlichkeit, der indes schon immer ein freiheitlicher Impuls innewohnte. So kreiste bereits die Gruppe der Archetypen, die sie 2005 in ihr Schaffen aufnahm, um ein ungebundenes,unabhängiges Umherstreifen der darin agierenden Figuren durch die Welt, gepaart mit einer großen Nähe zur Natur und ihrer Phänomene. Die darin auftretenden, durchweg weiblichen Protagonist:innen kulminierten zuletzt in der zu pflanzlichen Strängen mutierten Figur der Unaussprechlichen, die aller eindeutigen Zuschreibungen entledigt ist. In gewisser Weise nimmt dieses freiflottierende Wesen die Idee der Unbounded Landscapes vorweg: Die Kräfte der Kreativität und der Spiritualität bündelnd, ist diese Gestalt mittlerweile ganz in den gestischen Farblandschaften der Künstlerin aufgegangen.
Eine selbstermächtigende Haltung ist auch in den landschaftlich verankerten Abstraktionen der Künstlerin weiterhin spürbar, der Aufbruch in die Freiheit, ins Neue, so noch nicht Gesehene. Insofern ist jedes Bild für Helga Maria Albrecht selbst auch eine „Entdeckungsreise“[4], die sie immer wieder ins Unbekannte führt, wobei die „Essenz“[5] ihrer Naturerfahrungen mitschwingt und durch die Schichtungen der Bilder wie ein Unterstrom hindurchschimmert. Das Durchreisen geografischer „Sehnsuchtsorte“[6] führte sie zurThematisierung der Landschaft in ihrer Malerei. Vor zehn Jahren begab sie sich in den Nord-und Südwesten der USA, deren unermessliche Weite sich von der Erde bis zum Himmel erstreckt. Zunächst bearbeitete sie die Begegnung damit in Aquarellmalerei und entfernte sich in dem Zuge zunehmend von der Darstellung spezifischer Landschaften. Neben ihrer heute weitgehend in Acryl geschaffenen Malerei auf Leinwand und Papier, die sie über längere Zeitverläufe realisiert, entstehen auch schnelle, kleinere Skizzen, in denen sie ihre Kompositionen auf komprimierte Weise vorwegnimmt und erprobt.
Künstlerische Anregung fand Helga Maria Albrecht unter anderem im farbintensiven Werk der bedeutenden abstrakten Expressionistin Joan Mitchell aus dem Kreis der New York School, das erst verspätet aus dem Schatten männlicher Kollegen wie Jackson Pollock oder Willem de Kooning hervortrat und von einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert wurde. Darüber hinaus beschäftigte sie sich mit Per Kirkebys frühen Landschaften, den abstrakten Aquarellen von Gerhard Richter und den flächig-expressiven Kompositionen der Palindrome-Serie sowie den filigranen Verwebungen der Post-Rubicon Paintings von Olav Christopher Jenssen. Ihre eigene Ausprägung der abstrakt-expressiven Landschaft manifestiert sich in einer sinnlichen Form der Abstraktion – ein Umgang mit Farbstrichen, -clustern und -Verflechtungen, der die ganze Sinnesfülle des Erlebens greifbar macht, die die Künstlerin auf ihren realen Pfaden durch die Natur erfährt und in den Räumen ihrer Kompositionen zum Ausdruck bringt. In ihrer Malerei fängt sie ein erweitertes Naturgeschehen und damit einhergehende innere Wandlungen in Bewegung ein – im endlosen Fluss ständiger Veränderung, die bei jedem Blick wieder ein anderes Bild, eine andere Landschaft zu erkennen gibt.
[1] Vgl. Helga Maria Albrecht. Artist Statement: https://www.helgamariaalbrecht.com/artiststatement (Zugriff am 24. Sept. 2025).
[2] Helga Maria Albrecht im Gespräch mit der Autorin am 1. Sept. 2025 in ihrem Hamburger Atelier.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Vgl. Artist Statement (wie Anm. 1).
[6] Helga Maria Albrecht im Gespräch mit der Autorin (wie Anm. 2).